Marc Angélil reviews both Publications for the architecture magazine WERK, BAUEN & WOHNEN (1_2/2023):
Perspektivenwechsel
Zwei Bände über Klima, Stadt und Entwerfen
Kaum beginne man mit der Lektüre, kann keiner der beiden Bände aus der Hand gelegt werden. Im englischen Sprachgebrauch lautet der hierfür verwendete Begriff Page-Turner. Die Bücher erzählen von einer Ideengeschichte des Klimawandels, die in den üblichen Geschichtsbüchern nicht anzutreffen ist – obwohl sie uns alle betrifft.
Liest man zwischen den Zeilen, erweisen sich die zwei Bände – sie sind unter der Leitung von Sascha Roesler im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützen Forschungsprojektes Architecture and Urban Climates an der Accademia di architettura in Mendrisio entstanden – als eine Kritik an der herkömmlichen Geschichtsschreibung, die stets bestimmte Inhalte bevorzugte und andere hingegen schlicht ausblendete. Die beiden Bücher leiten einen Perspektivenwechsel ein.
Wechselwirkungen von Stadt und Klima
Die Ideengeschichte des Klimawandels wird aus der Sicht jener Fachbereiche betrachtet, die sich der gebauten Umwelt widmen, von der Architektur über den Städtebau bis zur territorialen Planung. Im ersten Band geht Roesler der Frage nach, in welchen historischen Schriften der Einfluss des menschlichen Handelns auf das Klima erkannt und angesprochen wurde. Das untersuchte fachübergreifende Material reicht von frühen Reiseberichten – etwa von Karl Friedrich Schinkels Tagebucheinträgen aus dem Jahre 1826, in welchen er über Londons und Manchesters verheerende Luftverschmutzung berichtet, bis zu wissenschaftlichen Traktaten, beispielsweise die 1937 veröffentlichten Bücher Das Stadtklima des Geografen Albert Kratzer und Das künstliche Klima in der Umgebung des Menschen der Meteorologen Ernst Brezina und Wilhelm Schmidt.
Diese und weitere Schriften führten damals schon zur Erkenntnis, dass die Veränderung des Stadtklimas als eine Folge menschlichen Handelns verstanden werden muss. Während Klima und Stadt in wechselseitiger Beziehung stehen, sind die daraus resultierenden Folgen jedoch keineswegs gewollt oder geplant. Sie werden im Nachhinein als unbeabsichtigte Nebenwirkung menschlichen Tuns erfasst. Erst retrospektiv werden die Ursachen des veränderten Stadtklimas erkannt, sei es die Industrialisierung oder die mit ihr zusammenhängende Konzentration der städtischen Bevölkerungen auf engstem Raum.
Darauf aufbauend geht Roesler dann der Frage nach, wie Architekten und Stätdebauerinnen den Versuch unternahmen, den klimatischen Veränderungen durch menschliches Handeln entgegenzuwirken. Dabei untersuchte er als Exkurs auch entwurfsorientiere Traktate, die sich dem Thema der Kontrolle des Klimas annehmen. Wie sollte gebaut werden, um mit dem Klima, statt gegen das Klima zu entwerfen? Die angeführten Beispiele eröffnen wiederum neue Perspektiven, die vom etablierten Fachdiskurs abweichen.
Beispielsweise untersucht Roesler die 1951 veröffentlichte Schrift des Raumplaners Ernst Egli Die neue Stadt in Landschaft und Klima oder das 1963 erschienene Buch des Architekten Victor Olgyay Design with Climate, das sich dem Thema einer bioklimatisch orientierten Architektur widmet. Desgleichen werden verschiedene Experimente an Universitäten vorgestellt, wie etwa die Studien des in den späten 1960er Jahren gegründeten Berkeley Environmental Simulation Laboratory oder die beinahe zeitgleichen Entwürfe, die an der University of Southern California im Natural Forces Laboratory unter der Leitung von Ralph Knowles entstanden. Anhand dieser Schriften und Projekte wird deutlich, dass der Klimawandel, der gewissermassen früh erkannt wurde, keineswegs nur eine Angelegenheit der Natur- und Umweltwissenschaften, sondern mit den umweltgestaltenden Disziplinen immanent verbunden ist.
Empfehlungen für Politik und Entwurf
Obwohl Band I einen Versuch darstellt, neue Trajektorien der Ideengeschichte unserer Fachgebiete zu erschliessen, greifen die Verfassenden im besten Sinne auf die Methoden der traditionellen Geschichtsschreibung zurück – allen voran auf die Arbeit mit Primärquellen und daraus ableitend die Überprüfung möglicher Thesen anhand spezifischer Beispiele.
Im Gegensatz dazu steht bei Band II die gegenwärtige Situation im Vordergrund. Dabei wird der Themenkomplex des Klimawandels von der stets dominierenden Perspektive der westlichen Welt auf andere Weltregionen erweitert. Band II ist projektiver und hypothetischer und gleicht eher einer Entwurfsskizze.
Im Rahmen einer vergleichenden Studie werden vier Städte untersuche: Genf, Santiago de Chile, Chongqing und Kairo. Die Fallbeispiele können Oh ja kaum unterschiedlicher sein. Allen Differenzen zum Trotz werden die Städte stets aus der Sicht ihrer Bewohnerinnen und Bewohner beleuchtet und Geschichten des Alltags erzählt. Es wird darüber berichtet, wie die Einwohner das Stadtklima individuell und kollektiv empfinden. Ebenso werden spezifische Massnahmen beschrieben, um die stadtklimatischen Verhältnisse zu verbessern und zu kontrollieren. Die Erzählungen sind weder moralisch noch apokalyptisch, vielmehr zeigen sie ganz pragmatisch auf, wie Menschen auf möglichst klimagerechte Weise ihre Umwelt gestalten.
Der Alltag ist aber nicht der einzige Faden, der die Fallstudien miteinander verbindet. In Anlehnung an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie werden drei Ebenen der Betrachtung eingeführt, die an den Begriff der «Agency» gebunden sind: erstens die bauliche Substanz der Stadt in ihrer Fähigkeit, als Klima Akteurin zu wirken (Agency of physical Structures); zweitens die Alltagspraktiken, die das klimabezogene Verhalten sozialer Akteure prägt (Agency of thermal Practices) und drittens die übergeordnete Rolle gesellschaftlich festgelegter Regelwerke zur Kontrolle des Klimas (Agency of thermal Regimes).
Der zweite Band endet mit einem Feuerwerk skizzenhaft umrissener Ideen, die sich der Fragestellung widmen, wie und mit welchen sozialen und baulichen Mitteln sich neue Klimaprotokolle erarbeiten lassen. Die dargelegten Empfehlungen reichen von der Anregung, Energielandschaften neu zu denken, bis zum Vorschlag, gemeinnützige «thermische Gemeinschaften» zu bilden. Die Liste an Möglichkeiten ist bewusst offen gehalten und soll der Leserschaft als Anregung für eigene Recherchen dienen. – Marc Angélil